
2023 episodes (13)




1 Meine Grundannahmen und Menschen, mit denen ich zusammenarbeite
Zu den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite und an deren Beispiel ich zeigen kann, wie wir arbeiten, gehört zum Beispiel Michael. Michael ist unser Spediteur. Er holt die Ge- tränke bei uns ab und bringt sie zu den Kundinnen. Das sind in der Regel Getränkehändlerinnen, die die Ware weiter an die Gastronomie verteilen. Als ich ihn das erste Mal anrief, um mit ihm eine Fuhre zu verabreden, war er ziemlich erstaunt, dass ich mit ihm nicht wie üblich verhandelte. Ich sagte ihm nicht, wann er die Ware bei uns abholen und wo er sie wann (mög- lichst auf die Stunde genau) abliefern sollte, sondern fragte ihn erst einmal, ob er die Lieferung überhaupt machen wollte und wann sie ihm zeitlich passen würde. Im nächsten Schritt startete ich keine Preisverhandlungen mit ihm, sondern fragte ihn, wie viel Geld er bräuchte, damit er die Fahrt machen könne. Au- ßerdem sagte ich ihm, wie viel die Getränkehändlerin bezahlen könne – vor dem Hintergrund des Verkaufspreises im Markt und des Einkaufspreises bei uns. Am Ende einigten wir uns auf einen Preis, mit dem jede gut leben konnte.

2 Führungsaufgaben in einem Kollektiv
Was wer übernimmt, hat vor allem mit den Kenntnissen zu tun, die wir erworben haben, oder individuellen Stärken, die wir besitzen, zuweilen aber auch mit einem Gefühl von Verant- wortung, das eben nicht bei allen Kollektivistinnen gleich stark vorhanden ist.

3 Dilemma-Uwe
— Fahad al Mosa, Mieter und inoffizieller Hausmeister Ich bin seit sechs Jahren in Deutschland und es war immer schwer, in Hamburg eine Wohnung zu bekommen, weil ich auch einen minderjährigen Neffen habe, um den ich mich kümmere. Die Woh- nungssuche hat mich viel Nerven und Zeit gekostet, was sich erst geändert hat, als ich Uwe traf. Wir konnten meinen Bruder und sei- ne Familie mit zwei Kindern aus Stuttgart holen und endlich eine Wohnung für sie finden, sodass wir als Familie wieder zusammen- kommen konnten. Eine Wohnung bedeutet ein Zuhause und damit auch, sein Leben im Griff zu haben. Für mich hat es bedeutet, dass ich alle Sprachkurse absolvieren und ein Studium beginnen konnte.

4 Fusion
Genau das, zusammen gute Lösungen zu finden und den Raum dazu frei zu machen, ist eines meiner Erfolgsrezepte. Es hat sich auch in der Getränkelogistik des Fusion Festivals bewährt und beschert mir seither ein Zimmer in einer Ferienwohnung, Frei- karten und Freibier für das Mecklenburger Festival.

5 Sicherheit durch Unsicherheit
Die Coronakrise hat uns alle verunsichert. Dass wir so gut durchgekommen sind, liegt auch daran, dass es uns gelungen ist, Sicherheit in der Unsicherheit zu schaffen. Indem wir uns mit un- seren Geschäftspartnerinnen zu Anfang jede Woche neu abspra- chen, konnten wir viele Zahlungen verschieben und ein Polster anlegen, aus dem wir dann nicht nur die bezahlen konnten, die dringend Geld brauchten, sondern auf dem wir auch selbst durch die Krise gerutscht sind, zumindest bisher. Dabei war dieses deli- berative Verfahren gar nicht neu. Im Grunde wende ich es schon lange an. Ich schließe keine schriftlichen Verträge, sondern treffe die Absprachen mit meinen Geschäftspartnerinnen immer unter dem Vorbehalt, dass der Konsens, den wir gerade gefunden haben, nur so lange gilt, wie alle damit zufrieden sind. Sollte sich da ran etwas ändern, weil die Umstände oder Interessen sich ändern, verhandeln wir neu. Damit ist eine gewisse Unsicherheit verbun- den, denn wir können nicht so sicher für die Zukunft planen wie andere, die feste Verträge haben. Tatsächlich planen wir aber auch viel weniger als andere Unternehmen. Es gibt keine Umsatzziele, keine festen Terminpläne, wann etwas fertig sein muss, sondern bestenfalls offene Absprachen und Wünsche.

6 BWL-Inseln
Das Betriebssystem von Premium wird in meinen Vorlesungen an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW Berlin) in Berlin seit Jahren mit Studierenden der Betriebswirtschaftslehre (BWL) diskutiert. Ziel dabei ist es, der BWL, wie sie seit Jahr- zehnten gelehrt wird, einen Ansatz gegenüberzustellen, der aus meiner Sicht so radikal anders ist, dass er neue Perspektiven eröff- nen kann – vielleicht auch deshalb, weil die Studierenden oft erst einmal irritiert sind, wenn wir über einen Antimengenrabatt oder die »Arschlochfreie Kette« reden. Üblicherweise findet diese Diskussion am Ende des Semesters statt. Sie fordert die Studierenden heraus, sich mit eigenen Wer- ten auseinanderzusetzen, indem sie ein unmoralisches Angebot bekommen. Hier müssen sie entscheiden, ob sie im Team »Uwe« oder im Team »Jan« (Marsalek, Wirecard) spielen.

7 Das Beste aus zwei Welten
Wenn ich gefragt werde, wie sich meine Arbeit zu den gän- gigen Ideen des Wirtschaftens verhält, antworte ich oft, dass ich versuche, das Beste aus zwei Welten zu verbinden, das heißt aus der Welt der konventionellen Wirtschaft und aus der Welt der alternativen Wirtschaft. Was das bedeutet, zeigt beispielhaft ein Beratungsauftrag, den mir die Vereinigten Arabischen Emirate er- teilt hatten, um ihnen bei der Neuorganisation einer Forschungs- einrichtung zu helfen. Ich hatte damit einige Erfahrungen, weil ich nach dem Studium an der Universität Lüneburg einen Studi- engang mitgeplant hatte und weil ich schon eine Reihe anderer Institutionen bei der Reorganisation unterstützt hatte – vor al- lem dann, wenn es darum ging, die Hindernisse abzubauen, die durch zu starke Hierarchien entstehen, Synergieeffekte zu stärken und die interne Kommunikation zu verbessern, an der oft vieles hängt. Das war auch hier der Fall. Die Emiratis hatten das Pro- blem, dass viele Forscherinnen – tatsächlich betraf dies sehr oft Frauen – die staatliche Forschungseinrichtung verließen, sobald sie ausreichend Erfahrungen und Reputation gesammelt hatten, um woanders arbeiten zu können. Die Verantwortlichen wussten nicht, woran das lag, und ich sollte das in Workshops herausfin- den.

8 Wie ich wurde, was ich bin
Ich habe früh angefangen zu arbeiten und viele verschiedene Jobs gemacht. Das musste ich auch, denn das Geld war bei uns zu Hause immer knapp. Nicht nur das Geld, sogar das Essen. Meine Mutter war alleinerziehend, wir bezogen Sozialhilfe und mussten alles rationieren, auch Lebensmittel. Käse, Brot, Milch – das war alles eingeteilt. Für andere Sachen war schon mal überhaupt kein Geld da. Ich habe den Blumenladen ums Eck geputzt, um mir das Geld für ein Skateboard zu verdienen und mit dem Board dann die Blumen ausgefahren, um ein bisschen Taschengeld zu haben. Später war ich Handlanger auf dem Bau, Barkeeper, Gabelsta- plerfahrer und Universitätsdozent. Tatsächlich war die Arbeit auf dem Bau aber entscheidend für mich. In der Schule war mir ein vielleicht traditionelles, aber für mich negatives Gesellschaftsbild vermittelt worden. Es gab »die Guten und die Kümmels«, wie es bei uns hieß. Die Guten, das waren die Kinder der leitenden An- gestellten, der Sparkassendirektoren und höheren Beamten. Die »Kümmels« das waren die Kinder von Einwanderern, Handwer- kern und einfachen Angestellten.

9 In welcher Welt könnten wir leben?
»Das System funktioniert doch gut!« wird mir manchmal ent- gegnet, wenn ich von einer anderen Wirtschaftswelt schwärme, in der wir leben könnten. Stimmt das? Ich bin nicht überzeugt. Wir sehen eine starke Ungleichverteilung von Ressourcen, die sich in der Pandemie noch verschlechtert hat: Drei Männer besitzen nun so viel Reichtum wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. Zugleich leiden weltweit rund 700 Millionen Men- schen an Hunger. Viele Länder versagen bei der Eindämmung dieser Pandemie, weil wirtschaftliche Interessen und kurzfristi- ge ökonomische Ziele von der Politik höher gewichtet werden als die Leben von Menschen. Es sind dieselben Interessen, die in der Vergangenheit einen wirksamen Tier- und Umweltschutz verhindert haben, weswegen weitere Pandemien folgen werden. Es gibt weltweit Kriege um Ressourcen und diese werden zuneh- men, ebenso wie die globalen Fluchtbewegungen von Menschen. Die Lebenserwartung von Menschen in Ländern mit einer ho- hen wirtschaftlichen Ungleichheit wie Brasilien oder Russland ist deutlich geringer als in Ländern mit einem für alle geringeren Lebensstandard wie Kerala in Indien. Und ganz nebenbei hei- zen wir den einzigen Planeten, auf dem wir als Menschheit leben können, konsequent immer weiter auf, sodass das Leben für viele zukünftigen Generationen von Menschen drastisch erschwert bis unmöglich wird. Ohne Menschen gibt es auch keine Wirtschaft mehr. Ein System, das die eigene Lebensgrundlage zerstört, kann ich nicht als funktionierend bezeichnen.
